KI-Wettlauf: Dann hat Europa eine Chance, wieder oben mitzuspielen

Clark Parsons, 16.09.2024

Meinungsartikel des IE.F-Geschäftsführers Clark Parsons in der WELT
WELT.de / Stand: 12.09.2024 / Meinungsartikel /
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Bildquelle: WELT (Originale: Yuichiro Chino/Getty Images; Marc Melkenbeek/Picture Alliance for DLD)

Europas Wirtschaft kann enorm von seiner ungenutzten Datenfülle profitieren, schreibt Gastautor und Denkfabrik-Chef Clark Parsons. Deutsche und europäische Firmen sollten diesen Schatz nicht aus der Hand geben. Er ist der Schlüssel für einen industriellen Befreiungsschlag.

Europas Daten sind vielleicht unsere letzte Bastion im Bereich KI. Als der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi am Montag seinen Bericht zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit präsentiert hat, nannte er viele Dinge, die wir seit Jahren sehen und hinnehmen. Unter anderem zeigte er auf, dass wir in Europa keine Global-Player in der Technologie-Welt entwickelt haben, und eine Handvoll Big-Tech-Firmen aus den USA den Weltmarkt dominieren. Allerdings dürfte das niemanden mehr überraschen.

Deutschland und Europa liegen mittlerweile hinter den großen Namen aus den USA weit zurück. Im Gegensatz zu europäischen Unternehmen haben die Apples und Microsofts dieser Welt riesige Mengen an Benutzerdaten aller Art, nie dagewesene Rechenleistung, einfachen Zugang zu Milliarden von Kunden und biblische Mengen an Investment-Kapital, um ihre dominante Position zu festigen. Allein 2023 stammten zwei Drittel aller Wagniskapital-Investitionen in generative KI-Firmen in den USA von Google, Microsoft und Amazon.

Als Antwort darauf plädiert Herr Draghi richtigerweise dafür, dass die Europäer die Dinge nicht nur regulieren, sondern auch anpacken müssen, um ihre Innovationskraft zu nutzen. Aber angesichts der gigantischen Marktmacht, die uns inzwischen gegenübersteht, fragen sich viele: Wie können wir uns noch behaupten und wo sollen wir bloß anfangen?

Lassen Sie uns bei der KI-Revolution anfangen. Denn die birgt immer noch enorme Chancen für Europa. Und der Schlüssel zur Europas KI-Chancen sind unsere Daten. Warum sind unsere Daten so wichtig? Sie sind bislang ungenutzt, geprägt von unglaublich tief greifendem und spezialisierten Domänenwissen – und sie sind der Treibstoff für KI.

Daten trainieren KI-Modelle. Schon im Jahr 2000 zeigte ein Microsoft-Paper, dass ein KI-Modell bessere und genauere Ergebnisse liefern kann, wenn es einfach mit mehr Daten gefüttert wird. Seitdem das klar ist, liefern sich die Tech-Giganten ein Wettrennen, indem sie atemberaubende Datenmengen sammeln. Das merkt man bei jedem neuen Sprachmodell, das rauskommt: Es wird mittlerweile von Milliarden von „Tokens“, also Datensätzen gesprochen.

Aber bei diesem Wettrennen ging es in letzter Zeit nicht immer mit rechten Dingen zu. Die „New York Times“ hat in diesem Jahr entdeckt, dass OpenAI seine ChatGPT-Modelle mit so ziemlich allen YouTube-Videos trainiert hatte – alles ohne Erlaubnis, still und heimlich. Warum hat der Rechteinhaber Google sich nicht darüber beschwert? Man munkelt, dass Google das Gleiche getan hat und keine Aufmerksamkeit erwecken wollte. Ein Pakt des Stillschweigens über unsere Daten also.

Dass wir dieses Rennen nun verloren haben, weil die Datenschätze des Consumer-Internets nun eben unter Anderen verteilt sind, ist jedoch ein Irrglaube. Denn die meisten Daten liegen nicht im öffentlichen Internet, sondern sind im Bestand von Firmen und Organisationen – tief vergraben in komplexen und oft verborgenen Wertschöpfungsketten. Und hier kommt Europas Chance.

Unternehmen auf der ganzen Welt versuchen herauszufinden, wie KI ihr Geschäft verändern kann. Sei es bei der Prozessverbesserung, der Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen, oder bei Produktivitätssteigerungen. Viele dieser Innovationen werden von dynamischen Start-ups kommen, die jetzt auf den Markt drängen.

Ein neues Policy Paper der Innovate Europe Foundation zeigt auf, dass all diese Start-ups von genau diesem noch nicht gehobenen Schatz profitieren können: Unser einzigartiges Domänenwissen – unsere Industrie-Prozesse, Firmen-IP, Geschäftsgeheimnisse, etc. – kann und muss datenschutzgerecht und mithilfe von KI genutzt werden. Das wird der Schlüssel für einen digitalen und industriellen Befreiungsschlag in Deutschland und Europa sein.

Datensouveränität ist die einzige Lösung

Diese Daten an nicht-europäische Unternehmen abzugeben, wäre ein großer Fehler. Datensouveränität ist also die einzige Lösung. Natürlich: Auf dem Weg dorthin wird es jedoch viele Versuchungen geben, den einfachen Weg zu wählen, insbesondere wenn große US-Technologieunternehmen scheinbar harmlose Tools präsentieren, die dann im Geheimen Informationen sammeln und sich in wichtige Prozesse einklinken. Wir wissen es aber besser: Wer die Daten hält, hält die Macht.

Dabei können nicht nur Unternehmen profitieren. Es gibt mehrere öffentliche Sektoren, in denen Europa mit KI-Lösungen glänzen könnte. Zwei Beispiele sind das Gesundheitswesen und die Mobilität.

Im Gesundheitsbereich stellen unsere gigantischen öffentlichen Gesundheitssysteme und Forschungseinrichtungen einen unglaublichen Pool an Wissen und Erkenntnissen für KI-basierte Innovationen dar. Es gibt viel zu tun, um die Datenerfassung zu standardisieren und gleichzeitig sicherzustellen, dass personenbezogene Daten, Privatsphäre und Geheimnisse geschützt sind.

Aber die Vorteile für die Gesellschaft sind immens und das Potenzial für europäische Unternehmen, an der Spitze dieser Innovationsbewegung zu stehen, ist enorm.

Zudem gibt es nirgendwo auf der Welt eine solche Konzentration von öffentlichen Verkehrsmitteln und multimodalen Mobilitäts-Netzen wie in Europa. Das Potenzial ist auch hier groß, aber ebenso groß ist die Versuchung, Big Tech aus den USA einfach die Kontrolle zu überlassen. Zum Beispiel in der Frage, warum lokale und nationale Bahn- und Schienensysteme ihre Echtzeitdaten erst mit Google Maps teilen, bevor sie sie an lokale Mobilitäts-Plattformen wie Omio in Berlin weitergeben.

Sowohl Europas Mittelstand-Champions als auch seine öffentlichen Einrichtungen haben Daten und spezialisiertes Domänenwissen, die in Zusammenarbeit mit Start-ups eine neue Ära von Innovation einleiten können. Dabei ist es extrem wichtig, dass wir Datensouveränität nicht falsch verstehen. Datensouveränität bedeutet nicht Daten-Geiz. Es hilft uns überhaupt nicht, wenn wir aus Angst vor Datenverlust gar nichts daraus machen.

Mehr Sicherheit dafür könnte aus einer „Infrastruktur made in Europe“ kommen. Ohne eine eigene Infrastruktur, von Cloud-Anbietern über Rechenzentren bis hin zur eigenen Chipproduktion, werden wir immer abhängig sein. Zum Glück haben Deutschland und Europa viele eigene Player, die Cloud-basierte Dienste von Speicher bis zu Büro-Dienstprogrammen anbieten.

Es wäre also ein starkes Signal, wenn unsere Verwaltungen öfter Gebrauch davon machen würden. Ein Leuchtturmprojekt hier ist Baden-Württembergs KI-basierte F13 Plattform, eine Public-Private Partnerschaft für mehr Effizienz in Verwaltungsvorgängen und -prozessen, die nun bundesweit zur Verfügung steht.

Während der Hype um große KI-Sprachmodelle bereits abflacht, werden die Dienste und Applikationen, die auf ihnen gebaut werden, die Art wie wir leben, kommunizieren, lernen und wirtschaften nachhaltig verändern. Hier ist der Zug also noch nicht abgefahren. Deshalb müssen wir auf Mario Draghi hören und die Weichen so stellen, dass unsere Bemühungen um ein eigenständiges Innovations- und KI-Ökosystem mit unserer industriellen Kompetenz verschmelzen.

Datensouveränität sollte unser Grundstein für KI sein und die beherzte Datenverwendung für KI muss das Resultat sein. Dann hat Europa eine Chance, wieder oben mitzuspielen.